Rituale – und warum wir sie gerade jetzt so sehr brauchen

Rituale – und warum wir sie gerade jetzt so sehr brauchen
Es ist Dezember.
Der Monat, in dem selbst die Menschen, die sich für ausgesprochen unspirituell halten, plötzlich beginnen, Plätzchenteig zu kneten, denselben Film wie jedes Jahr zu schauen oder in leicht sentimentalen Rückblicks-Modi versinken.
Wenn wir ehrlich sind, ist dieser Monat voll von Ritualen, kleinen wie großen – und vielleicht lieben wir genau deshalb diese Zeit so sehr. Denn Rituale schenken Halt, wenn das Jahr sich dem Ende neigt und die To-do-Listen länger werden als jeder gute Vorsatz hält.
Rituale sind keine Esoterik – sie sind systemische Realität
Aus systemischer Perspektive sind Rituale etwas Hochfunktionales:
Sie strukturieren Übergänge, geben Orientierung, stiften Sinn, verbinden Menschen miteinander und schaffen einen Moment, in dem das Symbolische schwerer wiegt als das Praktische.
Rituale beantworten die Frage:
„Wie gehen wir gemeinsam durch Veränderung?“
Und genau das macht sie so wertvoll – nicht nur privat, sondern auch im Arbeitsalltag.
Ein Beispiel im Online-Meeting?
Dieses kleine gemeinsame Schauspiel, wenn jemand spricht, niemand etwas hört, und alle freundlich nickend abwarten –
in der stillen Hoffnung, dass sich die Technik gleich ganz von selbst berappelt.
Tut sie natürlich nicht.
Dann kommt der Satz, der virtuelle Teams weltweit eint:
„Du bist noch auf Mute.“
Ein Ritual, das jedes Meeting menschlicher macht.
Denn es zeigt:
Wir sind zusammen – im Chaos wie im Kachelnetz.
Das Unausgesprochene, das uns trägt
Rituale, die uns begegnen, ohne dass wir sie planen:
- das warme Lächeln im Bildschirm, wenn jemand neu dazu kommt
- der Moment, in dem wir unbewusst gleichzeitig die Schultern fallen lassen
- das Gefühl von „Wir schaffen das“, das entsteht, wenn alle kurz innehalten, bevor ein schwieriges Thema beginnt
Wir nennen es nicht Ritual, aber genau das ist es:
Eine sich wiederholende Handlung, die Bedeutung gewinnt, weil wir sie teilen.
Und dann gibt es die bewegenden Rituale
Menschen verabschieden, Menschen willkommen heißen.
Jahresabschlüsse, in denen nicht Zahlen, sondern Geschichten zählen.
Momente, in denen ein Team nicht mit Strategie, sondern mit einem gemeinsamen Seufzer beginnt.
Warum wir Rituale besonders zum Jahresende brauchen
Das Jahresende ist ein Übergang.
Und Übergänge sind systemisch betrachtet sensible Phasen.
Ob wir wollen oder nicht – der Dezember zwingt uns zur Bilanz.
Wir verabschieden uns von einem Jahr, das uns geprägt hat, und lehnen uns gleichzeitig vor in eines, das wir noch nicht kennen.
Rituale helfen dabei, diese Schwelle bewusster zu gehen:
- ein Jahresrückblick im Team, der mutig und ehrlich statt kosmetisch ist
- ein Abschlussritual, das nicht nur die High-Performer feiert, sondern alle, die getragen haben
- ein gemeinsamer Moment der Stille, in einer Welt, die laut genug ist
- ein persönliches Ritual, das uns erdet – ob das Plätzchenbacken ist oder der Spaziergang am 24. um 15 Uhr, den wir seit 20 Jahren machen
Rituale sind Orientierung – und manchmal Rettung
Vielleicht ist genau das das Schöne:
Rituale zwingen uns nicht, sie laden uns ein. Sie sagen:
„Du musst diesen Übergang nicht allein gehen.“
Und vielleicht tut uns das gerade jetzt besonders gut.
Denn je schneller die Welt wird, desto wichtiger sind die Momente, die uns verlangsamen.
Je komplexer unsere Arbeit wird, desto wertvoller sind die symbolischen Ankerpunkte.
Je voller das Jahr, desto heilsamer die wiederkehrenden Handlungen, die sagen:
„Hier entsteht der Zwischenraum, in dem Veränderung leichter wird.“
Mein Wunsch für dieses Jahresende
Ich wünsche uns allen Rituale, die uns tragen, die uns verbinden und die uns erinnern, dass wir nicht Maschinen sind, die von Monat zu Monat springen.
Sondern Menschen, die Übergänge gestalten.
Und die dafür manchmal nur einen Kaffee, ein Lächeln oder eine kleine symbolische Handlung brauchen – die mehr bewirkt, als wir denken.
Alles Liebe
Nadine Nierentz
Autorin: Nadine Nierentz, Geschäftsführerin syspo excellence







