Seitenmodell & Steuerungs-Ich – oder „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“
„Rückblickend ist mir klar geworden:
Das Thema Trennungsgespräche führen hat mich schleichend und zunehmend verunsichert und mir regelrecht Angst eingeflößt. Ich hatte immer weniger Raum und Abstand, um meine Mitarbeitenden zu sehen, sie in ihrer Betroffenheit abzuholen und adäquat zu führen.“ Das war das Fazit einer Führungskraft, mit der ich im Coaching gearbeitet habe und die das erste Mal ein Team durch einen tiefgreifenden Veränderungsprozess geführt hat.
Hypnosystemisch kann man das beschriebene Erleben der Führungskraft mit Hilfe des Seiten-Modells gut nachvollziehen:
Wenn wir im Laufe eines Tages immer mal wieder innerlich einchecken und uns bewusst machen, was wir denken und fühlen, können wir – je nach Kontext – unterschiedliche Seiten in uns wahrnehmen. Seiten, auch innere Anteile oder Ego-States genannt, repräsentieren hierbei gemachte Erfahrungen, die als Erlebnis-Netzwerk im Gehirn gespeichert sind. Und in spezifischen Kontexten „springen“ bestimmte Seiten vor allem unwillkürlich an. Je nachdem, worauf wir gerade am meisten fokussieren, erleben wir uns und andere bzw. die Welt entsprechend anders.
Abbildiung 1: Seiten repräsentieren im hypnosystemischen Seitenmodell unterschiedliche innere Anteile, die – meist aus Erfahrungen abgeleitet – als Erlebnis-Netzwerk im Gehirn gespeichert sind.
Im Beispiel der oben zitierten Führungskraft
sind im Kontext „Transformation und Trennungsgespräche führen“ die ängstlichen und verunsicherten Seiten mehr und mehr angesprungen. Dies hatte unter anderem Auswirkungen auf das Alters-Erleben sowie das Kompetenz-Erleben der Führungskraft: „Habe mich eher kindlich-klein gefühlt und oft überfordert, inkompetent“. Sie hat sich also zunehmend mit der verunsicherten oder ängstlichen Seite verwechselt und diese Seite als ihr „Ich“ erlebt und sich mit ihr identifiziert (vgl. Abbildung 2). Die Auswirkungen davon waren spürbar: Sie konnte wichtige, andere Bedürfnisse von ihr und Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden immer weniger wahrnehmen und berücksichtigen und dadurch hilfreiche Kompetenzen, Handlungs- und Lösungsoptionen immer weniger sehen und nutzen. Denn der Organismus reagiert in diesem Fall zunehmend archaisch und mit Stress: Angst und Ohnmachtsempfinden nehmen zu und Mut, Zuversicht und Lösungsorientierung nehmen dagegen ab.
Abbildung 2: Eine Seite übernimmt innerlich das Ruder und die Person assoziiert bzw. verwechselt sich im ungünstigen Fall mit der Seite, die quasi „auf die Bühne springt“.
Wie kann es nun gelingen,
aus der Identifikation mit einer Seite – so wie es auch besagter Führungskraft ergangen ist – wieder rauszukommen, wieder handlungsfähig zu werden? Ein erster, hilfreicher Schritt kann sein, innerlich einzuchecken und sich bewusst zu machen: „Ahhh, interessant – es ist ja nur eine Seite von mir, die so empfindet!“ Diese Erkenntnis schafft sofort Raum und Abstand zum Erlebten und die Identifikation wird aufgelöst: Von ICH ALS GANZE PERSON bin ängstlich, verunsichert hin zu: Es ist ja nur EINE SEITE VON MIR, die ängstlich, verunsichert ist…
In einem weiteren Schritt ist es wichtig,
die unterschiedlichen Seiten anzunehmen, sich bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen, ihre Beziehungen zueinander zu ordnen, sie zu würdigen und die Bedürfnisse der jeweiligen Seite zu erkennen und diese zielangemessen zu moderieren. Hierzu ist es hilfreich, eine zusätzliche Instanz, die vorher nicht da war, einzuführen und die diese Aufgaben übernimmt. Ich nenne diese Instanz nach Gunther Schmidt das Steuerungs-Ich. Charakteristisch für das Steuerungs-Ich ist, dass es eine kraftvolle Überblickshaltung hat, alle Seiten sieht und würdigt sowie die Bedürfnisse der Seiten zieldienlich moderiert.
Um in eine kraftvolle Steuerungs-Ich-Haltung zu gelangen,
kann ich mich fragen: „Wann bin bzw. war ich so richtig kraftvoll unterwegs und mit meinen Kompetenzen voll verbunden, habe mit Überblick und Abstand die Dinge optimal gemanagt?“ Ich kann also innerlich mit allen Sinnen in meine „Muster des Gelingens“ eintauchen und somit die entsprechenden neuronalen Netzwerk-Muster wieder reaktivieren. Und pling – wird mein Erleben ein anderes sein! Wenn ich vorher vielleicht unbewusst in eine defizitorientierte oder ängstliche Haltung „reingeschlittert“ bin, also mein Fokus unbewusst darauf lag, was ich nicht gut kann oder was Angst macht, kann ich nun meine Aufmerksamkeit und meinen Fokus ganz bewusst auf Potenzialentfaltung und Kompetenzerleben ausrichten.
Abbildung 3: Das Seitenmodell mit innerlich aufgebautem Steuerungs-Ich
Und aus dieser kraftvollen, mit Ressourcen und Kompetenzen verbundenen Steuerungs-Ich-Haltung
kann ich mir dann einen optimalen Überblick aufbauen, alle Seiten wertschätzen, kann Nähe und Distanz regeln, Abstand zu Bedrängendem im Außen schaffen und Bedrängtes (bedürftige, schwache Seiten) schützen. Insgesamt ermöglicht es mehr Raumempfinden und schafft Zugang zu anderen, hilfreicheren Erlebnismöglichkeiten. Ich erlebe Wahlmöglichkeiten, kann mich (von dort) mit meiner Zielvorstellung beschäftigen, kann diese ggf. auch verändern und werde dadurch wieder handlungsfähig.
Zurück zur Führungskraft aus dem Anfangsbeispiel:
Sie hat im Coaching inzwischen Seitenmodell & Steuerungs-Ich schätzen gelernt und weiß, wie sie eine verunsicherte oder ängstliche Seite aus einer kraftvollen Haltung mit Überblick annehmen und Bedürfnisse kontextbezogen erkennen kann. Ihre unsichere Seite wollte in dem skizzierten Kontext zum Beispiel noch mehr trainieren, wie sie ein Trennungsgespräch führt, weil sie sich insbesondere im Umgang mit möglichen Emotionen noch nicht sicher genug fühlte. Und ihre ängstliche Seite fürchtete sich davor, selber nicht mehr dazuzugehören. Hier war es hilfreich, eine frühere Trennungssituation noch einmal würdigend anzunehmen und zu betrauern. Zudem hat die Führungskraft es sich zur zentralen Selbstführungs-Aufgabe gemacht, innerlich im Laufe des Tages immer wieder und insbesondere in herausfordernden Situationen, einzuchecken und eine optimal koordinierende Steuerungsposition aufzubauen bzw. diese wieder zu reaktivieren. Dadurch ist es ihr möglich, die unterschiedlichen Seiten oder Anteile zu moderieren und zu einer optimalen Synergie bezogen auf das jeweilige Ziel zu führen.
An der Arbeit mit dem Seitenmodell gefällt mir besonders,
dass es zum Ziel hat, alle Seiten zu sehen und würdigen – auch die, die uns vielleicht auf den ersten Blick „nerven“ und die wir am liebsten „weghaben“ wollen. Es ermöglicht, schnell und zugleich tief mit eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen. Ich finde nichts erfüllender und berührender, als Bedürfnisse oder Gefühle anzunehmen, zu integrieren und mit ihnen ganzheitlich und bewusst nächste Schritte zu gehen.
Übrigens: In der Coaching-Ausbildung von syspo excellence gibt es auch ein Modul „Hypnosystemik“ – sehr spannend und definitiv erlebensverändernd!
Autorin: Christiane Wendell – Senior Beraterin bei syspo excellence
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